Im WOBLA-Gespräch: Interview mit Dr. Jörg Cuno
Geschäftsführer von PalliVIVO, Leitender Arzt, Facharzt für Innere Medizin, Palliativmedizin
Im Januar 2022 startete „PalliVIVO“ in Bamberg. Schwerstkranken Patientinnen und Patienten werden hier die letzten Wochen und Monate ihres irdischen Daseins so lebenswert wie nur irgendwie möglich gemacht. Herr Dr. Cuno, wie sind Ihre Erfahrungen als Leitender Arzt nach einem Jahr „PalliVIVO“?
Dr. Cuno: Wenn ich auf das Jahr 2022 zurückblicke, schaue ich voller Dankbarkeit auf all die Begleitungen und berührenden Momente bei den uns anvertrauten Patienten und ihren Familien. Für mich persönlich ist es ein großes Geschenk, den Menschen in kritischen Lebenssituationen zur Seite zu stehen und ihnen durch eine hochqualifizierte medizinische und pflegerische Versorgung Linderung zu verschaffen, gleichzeitig aber auch durch die entgegengebrachte Wärme und Zuwendung Schutz und Sicherheit geben zu können. „Wenn Sie da sind,“ hat einmal ein Patient zu mir gesagt, „hat man das Gefühl, man sei der einzige Patient, den Sie haben.“ Das hatte mich damals und heute noch sehr bewegt, weil es genau das ist, was mir in meiner Arbeit mit meinen Mitarbeitern so wichtig ist: da zu sein, Nähe zu geben und den Betroffenen zu zeigen, dass sie gerade der wichtigste Mensch sind.
Wie kann man sich die Betreuung und Begleitung durch Ihr Team in der Praxis vorstellen?
Dr. Cuno: Zunächst einmal ist es so, dass in vielen Fällen der erste Kontakt über den Haus- oder Facharzt erfolgt. Mittlerweile rufen uns aber auch Patienten oder deren Familienangehörige an und bitten um eine Betreuung durch uns, weil sie uns über ihren Bekannten- oder Verwandtenkreis bereits in irgendeiner Form kennengelernt haben.Wenn wir dann den Patienten in unsere Versorgung aufnehmen, bedeutet das erst einmal, dass wir nach einer ausführlichen Beratung und dem Herausarbeiten der belastenden Symptome für ihn einen individuellen Behandlungsplan erstellen – ganz ausgerichtet auf seine persönlichen Bedarfe und Bedürfnisse. Unsere Aufgabe ist es dann, jederzeit – also rund um die Uhr – in Krisen und Notsituationen erreichbar zu sein und über regelmäßige Hausbesuche oder Telefonkontakte ein Sicherheitsnetz für die Betroffenen und deren Familien zu spannen. Dabei liegt der Schwerpunkt nicht unmittelbar auf der rein medikamentösen Behandlung, sondern oftmals auch auf der psychosozialen und spirituellen Begleitung – und dies so lange, wie uns der Patient braucht. Es gibt hier letztlich kein zeitliches Limit. Dieses Wissen um die jederzeitige Erreichbarkeit und die Annahme des Patienten mit all seinen Wünschen und persönlichen Besonderheiten schafft für die Betroffenen ein hohes Maß an Sicherheit.
Die Themen „Pflege“ und „Sterben“ sind in unserer Gesellschaft oftmals noch ein Tabu. Leider. Welche Erfahrungen und Tipps können Sie Patientinnen und Patienten und Angehörigen für diese herausfordernde und intensive Zeit geben?
Ich denke, dass die allermeisten Menschen gerne alt werden möchten, gleichzeitig aber Angst davor haben, alt zu sein mit all seinen daraus oftmals resultierenden Schwächen und Gebrechen oder auch dem Verlust von Selbstständigkeit und Mobilität – körperlich wie auch geistig. Von daher wird das gerne in einer nach Jugend strebenden Gesellschaft ausgeklammert. Je frühzeitiger man sich aber mit dem Thema der eigenen Endlichkeit auseinandersetzt, natürlich ohne sich dabei ständig den eigenen Tod oder das eigene Sterben vorzustellen, beides aber als logische Konsequenz des Seins betrachtet, desto leichter kann es werden in dem Moment, in dem es soweit ist.
Es gibt Untersuchungen, die zeigen, dass mit frühzeitigem Auseinandersetzen und auch dem Sprechen über solche Dinge zwar zunächst Angst und Sorgen präsenter werden, diese zum eigentlichen Ereignis hin aber abnehmen. Und dass beides so ein viel leichteres Sterben möglich macht, als wenn man die ganze Zeit versucht, diese Themen zu verdrängen. Letztlich gibt es aber für den eigenen Umgang damit keine standardisierte Lösung oder Antwort. Vielmehr ist es dann unsere Aufgabe als Palliativteam, genau hinzuschauen und hinzuspüren, was für den jeweiligen Patienten jetzt gerade wichtig ist. Und das Ganze, ohne zu werten.
„Lebenswert“ und „selbstbestimmt“ sind zwei Schlagworte aus Ihrer täglichen Arbeit. Nahezu jeder Mensch wünscht es sich, zu Hause in den eigenen vier Wänden für immer einschlafen zu dürfen. Können Sie Ihren Patientinnen und Patienten diesen Wunsch in der Praxis erfüllen?
Mit den beiden Begriffen haben Sie vollkommen recht, dass sie einem täglich begegnen, wobei kaum etwas so individuell ist wie diese jeweiligen Wahrnehmungen. Die meisten Menschen wollen tatsächlich zu Hause sterben, wobei das auch das Pflegeheim sein kann, in dem sie vielleicht schon jahrelang leben und sich dort zu Hause fühlen. Tatsächlich ist es aber so, dass die allermeisten Menschen nicht zu Hause sterben, sondern immer noch im Krankenhaus oder als Kurzzeitpflegebewohner in einer Einrichtung. Sterben die Patienten im Krankenhaus, sind es dann mehr als 50 %, die auf der Intensivstation sterben. Die Schere aus Wunsch und Wirklichkeit kann somit nicht weiter auseinander sein. Wir haben letztes Jahr mehr als 90 % unserer Patienten bis zum letzten Atemzug zu Hause begleiten können. Manchmal geht es schlichtweg nicht, weil der Patient vielleicht alleine lebt oder der Lebenspartner so hochbetagt ist, dass das nicht mehr geleistet werden kann.
Vielen WOBLA-Leserinnen und -Lesern ist sicherlich schon der orangefarbene PalliVIVO-Stadtbus aufgefallen. Wie sind Ihre Erfahrungen mit dieser außergewöhnlichen Werbeform für eine ambulante Palliativversorgung?
Ehrlich gesagt, sehr gut. Mein Ansinnen war und ist es seit mehr als 20 Jahren, das Thema „Palliativversorgung“ weiter in die Gesellschaft zu bringen. Daher auch unser Name PalliVIVO, der ganz klar vermittelt, dass diese Arbeit Lebensmedizin bedeutet und somit alles, was wir tun, auch mitten ins Leben hineingehört. Nur weil wir etwas ausblenden, bedeutet es nicht, dass es nicht da ist. Vielleicht dient uns der Bus auch ein Stück weit der bewussten Erinnerung, wie kostbar jeder gute und glückliche Moment ist. Frank Sinatra soll einmal gesagt haben, dass Orange die glücklichste Farbe ist. Ich persönlich finde, dass unsere Busse Hoffnung und Positivität ausstrahlen.
Für Sie und Ihr Team sind die täglichen Emotionen sicherlich nicht immer leicht zu verarbeiten. Wie gelingt es, in diesem trauernden Umfeld Freude und gute Laune zu verbreiten?
Da haben Sie recht. Wir sind tatsächlich täglich in Grenzbereichen des Lebens unterwegs, teilweise auch im Grenzbereich des wirklich Ertragbaren. Was uns aber auszeichnet, ist der wertschätzende Umgang innerhalb unseres Teams miteinander. Die stetige Fürsorge für den jeweils anderen und die Einsatzbereitschaft im Team immer zu unterstützen. Das bedeutet nämlich auch, dass sich jeder um jeden bemüht und kümmert. Damit ist uns im Team unglaublich geholfen. Dazu haben wir natürlich so wichtige Elemente wie Supervision, seelsorgerische Einzel- oder Gruppengespräche oder unseren teaminternen PalliVIVO-Talk, eine Art Gesprächsrunde zur Verarbeitung belastender Erlebnisse.
Gibt es Momente, die auch Sie als Palliativmediziner noch ergreifen und zu Tränen rühren?
Oh ja, die gibt es. Gott sei Dank. Denn wenn ich eines auf jeden Fall nicht nur für das Team, sondern auch für mich unbedingt haben möchte, dann ist das, berührbar zu bleiben. Wenn ich nicht mehr in eine Situation hineinspüren und nicht mehr fühlen kann, was der andere in dem Moment wohl fühlt, bin ich auch nicht mehr in der Lage, mich ihm gegenüber angemessen zu zeigen und die für ihn notwendige Hilfe anzubieten. Ich selbst stelle mir immer die Frage, wenn ich beim Patienten bin, wie ich wollen würde, dass meine Familie in dem Moment behandelt sei. Auch das schafft natürlich emotionale Nähe und Verbindung.
Die Angst vor dem Sterben ist in unserer Gesellschaft sicherlich weit verbreitet. Kann man diese mildern oder sogar in positive Gedanken umwandeln?
Ich weiß noch nicht einmal, ob es tatsächlich die reine Angst vor dem Sterben ist, die in uns Menschen schwelt, oder vielleicht die Angst, nicht ausreichend gelebt zu haben. Vor allem ist diese Angst keine Frage des Alters. Ich habe oft auch junge Patienten erlebt, die für die Kürze ihres Lebens eine unglaubliche Abgeklärtheit und Akzeptanz des eigenen Sterbens vermittelt haben, weil sie der tiefen Überzeugung gewesen sind, alles erlebt gehabt zu haben, was ihnen wichtig gewesen war. Umgekehrt gibt es auch hochbetagte Patienten, die noch nicht lebenssatt sind und jeden Tag voller Leben aufsaugen. Das macht die Arbeit in der Palliativversorgung ja so unglaublich besonders und erfüllend, dass man von einem Hausbesuch zum nächsten jedes Mal auf ein ganz anderes Leben mit ganz anderen Erfahrungen und Erwartungen trifft.
Comments are closed.